Nach wahren Begebenheiten frei erfunden.
17:51
Die
Sonne steht schon tief, scheint uns durch die dichten Staubwollen ins Gesicht,
die zehntausende Jugendliche aus dem Boden stampfen. Wir alle wandern in eine
Richtung, gegen das orange Licht, es säumt die Köpfe mit einem goldenen Kranz,
die Körper werden zu grauen Silhouetten.
Von
einer Bühne kommen tiefe Bässe, die durch unsere Adern pulsieren, unseren
Schritten den Rhythmus sagen. Irgendjemand vorne beginnt zu singen, wir stimmen
ein, nehmen die Hände in die Höhe, gehen grölend weiter.
Ein
Freund drückt mir seine halbleere Bierdose in die Hand, ich kippe sie runter.
Unsere Gruppe reiht sich in die großen Trauben wartender Leute vor den
Kontrollschleusen. Die Erwartung pumpt uns wie ein riesiges Herz durch den
Engpass, wir zeigen unsere Bänder, lassen uns kurz abtasten. Dann geht es
weiter, die Musik wird lauter, wir singen, springen durch die Staubwüste.
Das
Gras zu unseren Füßen ist zertreten, braun vom Staub, Plastikbächer liegen mit
anderem Müll am Boden verteilt. Ein winziger Teil in der großen Masse wandern
wir weiter, durch die Getränkestände weiter, kaufen uns Bier, kämpfen uns vor
bis zum ersten Wavebreaker.
Am
Boden, auf den Schottersteinen sitzen die Leute, wartend. Mit meiner Gruppe
drängen wir uns an ihnen vorbei, stellen uns ganz in die Mitte, die leere,
gewaltige Bühne vor uns. Es ist bald so weiter, die letzten, sitzenden Menschen
stehen auf, Sprechgesänge wallen auf.
Sie
rufen ‚Casper!’, die Scheinwerfer gehen an. Hinter der Bühne hängt tief die
Sonne, in unserem Rücken zieht die Nacht auf. Die Band tritt auf, die Gesänge
werden lauter, die Menschen klatschen. Ich hebe meine Hände in die Luft,
schließe mich an.
Und
dann kommt er auf die Bühne gelaufen, beginnt mit seiner rauen Stimme zu
singen. Alle beginnen zu springen, unsere Körper reiben aneinander, Staub
steigt in riesigen Wolken auf, wir ziehen in tief in unsere Lungen, stimmen in
die Chöre ein.
„Hallo
Frequency!“, raunt er ins Mikrofon. „Ihr seid wunderschön, ihr seid so
perfekt!“
Es
wird dunkel über dem Festival, es ist heiß zwischen den Menschen, nur wenn ich
die Hände hebe, spüre ich den kühlen Wind vorbeisteifen. Die Stimmung steigt,
das Publikum kocht.
„Nehmt
alle die Hände hoch, bis ganz nach Hinten!“, ruft Casper. Er steht auf
Lautsprecherboxen, die Hände weit ausgebreitet, als würde er uns alle in sich
aufnehmen wollen.
Jemand
tippt mir auf die Schulter, ich drehe mich um. „Soll ich dich auf die Schultern
nehmen?“, fragt mich eine tiefe Stimme. Hinter mir steht ein großer, junger
Mann, lächelte mich freundlich an. Ich nicke, er geht auf die Knie, hilft mir
auf seine Schultern. Dann richtet er sich auf, ich werde hochgehoben, über das
Menschenmeer. In dem Staub, zwischen den emporgehaltenen Händen, throne ich
über allem. Mein Herz rast, ich spüre den heißen Nacken des Mannes zwischen
meinen nackten Oberschenkeln.
Alle
beginnen zu klatschen, ein treibender Rhythmus, wie Kriegstrommeln. Es war so
wunderschön, so fern von Alltag. So viel Lebensfreunde, so viel tanzende
Menschen, so viel Musik. Laut weht sie über die Köpfe hinweg, taucht in uns
ein, vibriert in unseren Knochen. Der Alkohol in meinen Adern enthebt mich der
Realität, ich lasse mich fallen in den Rausch dieser Freiheit.
Als
ich wieder heruntergleite, in die Hitze, den Schweiß und die verbrauchte Luft
zwischen den Menschen, fängt mich der junge Mann auf, lächelt mich freundlich
an. „Ich bin Marco.“ Er muss sich zu mir herunterbeugen, bis an mein Ohr. Ich
lege meine Hand auf seine Schulter, sage ihm meinen Namen, bedanke mich bei
ihm.
„Kein
Problem ...“ Wir verharren einen Augenblick so, ich schau in seine Augen, ein
Lächeln funkelt in ihnen.
„Hast
du eine Zigarette?“, fragt er mich. Ich schau in das zudrückte Päckchen, zucke
entschuldigend mit den Achseln.
„Nur
noch eine ... wir können sie uns teilen.“ Ich zünde sie mir an, mache einen
Zug, gebe sie ihm. Er nimmt sie mir ab, zieht kurz an ihr, bläst den Rauch in
den Himmel. Unsere Blicke treffen sich wieder, er beugt sich zu mir herunter,
unsere Lippen treffen sich.
Die
Zigarette verglüht in meiner Hand, ich schlinge meine Arme um seinen Hals, er
zeiht mich an sich. Unsere verschwitzen Körper sind eng aneinandergepresst,
unsere Zungen berühren sich.
Die
Weltflucht wird vollkommen, die Musik hebt uns in andere Sphären, unser heißer
Atmen, die Nähe der spontanen Begegnung, entrücken uns.
Wir
lösen uns wieder von einander. Alle haben die Hände in der Höhe, recken den
Mittelfinger in die Luft, springen zur Musik. Wir schließen uns an, tanzen. Ich
lache, der Kuss rauscht noch durch meinen Körper, die Bässe, die Menschenmassen,
treiben mich an. Die Wut auf die Welt, der Verzweiflung über das Schicksal, die
Frustration über den Alltag, brechen aus uns heraus, wir schicken sie mit den
Staubwolken in den Himmel. Wir finden Freiheit in dieser Masse der Menschen.
Das
Konzert kommt zum Ende, der Rausch der Musik ebbt ab, ich blicke mich nach
meiner Gruppe um. Sie sind verschwunden, in den Tänzen hatten wir sie verloren.
Marco steht noch hinter mir, er lächelt und meint, ich solle ihm folgen. Wir
winden uns zwischen den Menschen die auf das nächste Konzert warten, hindurch,
kommen schließlich hinter die Massen, zu den Getränkeständen. Es strömen immer
noch Leute nach vorne, wir kämpfen uns zu einer der Bars und bestellen Bier.
Wir
reden ein wenig, erzählen uns Belanglosigkeiten von unseren Studien und unserer
Heimat. Alles hört sich so fern an, als wäre ich ewig nicht mehr zuhause
gewesen und das Studium würde nie wieder beginnen. Alles ist sonderbar relativ,
der Moment wird zum Mittelpunkt. Und im Moment interessiert sich keiner für
morgen.
Wir
teilen uns noch eine Zigarette, die uns jemand geschenkt hatte, dann küssen wir
uns wieder. Ich schmecke die Zigarette, das Bier, die Freiheit.
Die
nächste Band beginnt, doch wir bleiben stehen, schauen nur aus der Entfernung
auf die Bühne, vor der die Lichter über den Menschen tanzen. Irgendjemand
zündet eine Rauchrakete, rot steigen die Wolken über das Publikum auf.
„Komm
...“ Marco nimmt meine Hand, wir laufen los. Rennen zwischen den langsam
dahinschlendernden Menschen hindurch, springen über am Boden Liegende, tanzen
durch die bunten Lichter.
Bei
den Zelten ist es dunkel, schattenhafte Gestalten kommen uns entgegen, die
Musik der Konzerte ist nur noch ein Echo hier. Neben dem Weg rauscht der Fluss,
von einer in der Wiese sitzenden Gruppe, steigt der würzige Geruch von Gras
auf.
Marco
und seine Freunde haben ihr Lager unter einer kleinen Baumgruppe aufgeschlagen.
Einige Campingsessel stehen noch um her, sonst ist alles leer. Wir setzen uns,
unsere Knie berühren einander. Er fischt eine Zigarettenpackung zwischen
einigen leeren Bierdosen hervor, wir rauchen noch eine. Ich mag seine Stimme,
sie ist tief, ein Lächeln schwingt in ihr mit.
Wir
reden über die Vergänglichkeit des Seins, über Frühstück und Marmelade, als er
seine Hand an meine Wange legt, sich zu mir beugt und meine Worte mit seinen Lippen
versiegelt. Unsere angefangenen Biere, die halbgerauchten Zigaretten, werden
vergessen, wir versinken abermals in unserem Kuss. Die Stille um uns wird
gefüllt durch das Rauschen meines Bluts, das Hämmern meines Herzens, als er
mich auf seinen Schoß zieht.
Seine
Hand gleitet unter meinen Rock, ich fasse in seine Haare, ziehe ihn an mich.
Unser Atem geht schneller, unsere Küsse werden verlangender. Wir halten inne,
sehen uns an, seine Augen funkeln im Dunkeln.
Ist
es der Alkohol oder die Realitätsferne, vollkommen haltlos, lasse ich mich von
ihm hochheben, zum Zelt tragen. Wir sinken auf seinen Schlafsack, hier drinnen
ist es noch heiß vom Tag, wir ziehen unsere T-Shirts aus.
Ich
lasse meine Finger über seine Haut gleiten, er ist mir vollkommen fremd, jeder
Millimeter, jede Berührung ist neu und doch ist er so vertraut. Ich lasse mich
fallen in die Arme dieses Fremden, fühlte mich mehr gehalten, als je zuvor.
Über
dem Zeltplatz summen Stimmen, einige Zelte weiter hat jemand Musik aufgedreht,
begrüßt alle mit irischem Rock. Die zarte Morgensonne wirft lange Strahlen auf
die Müllwüste, Zombies wandeln umher, auf dem Weg zu Toiletten.
Ich
klettere aus dem Zelt, schau noch einmal zurück, auf Marco, der dort zwischen
Schlafsäcken und Rücksäcken liegt, das schummrige Licht auf seinem ruhigen,
entspannten Gesicht. Es ist mir nun so vertraut, auch wenn ich ihn erst gestern
kennengelernt habe.
Er
richtet sich auf, lächelt, greift nach meiner Hand und zieht mich noch einmal
zurück ins Zelt. Wir küssen uns zum Abschied, tief und innig, voller Erinnerung
an die letzte Nacht, dann lässt er mich los, ich lasse den Vorhang des Zelts
zugleiten und trete in den kühlen Morgen.
Ich
geh durch die Zelte, über all erwacht das Leben. Mühsam kriechen Leute aus
ihren Zelten, lümmeln in kaputten Campingsesseln, die wieder mit
Panzerklebeband geflickt wurden, trinken Bier zum Frühstück.
Von
Marco weiß ich keinen Namen, keine Nummer. Auch wenn er wie ein
Seelenverwandter für eine Nacht war, gehe ich nun davon, lasse ihn zurück in
der Anonymität gleiten, dort wo ich ihn gestern gefunden hatte.
Das
ist die Freiheit der Jugend. Wir trinken zu viel, singen zu laut, tanzen zu
wild, lieben zu unbedacht. Doch wenn wir am nächsten Morgen aufwachen, ist jede
Dummheit vergessen und wir machen alles am nächsten Abend noch einmal. Es ist
wunderschön.
Ein
Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht, ich zieh die laue Luft tief in meine
Lungen, schlendere zu meinen Zelten heim.
8 Kommentare
vielen Dank :) Das ist in dem Rathaus von Stockholm entstanden
AntwortenLöschenJa klar, der Film ist für diejenigen, die die Bücher nicht gelesen haben wahrscheinlich noch besser :) Und ich fand eigentlich, dass es zwar ein guter Film war, aber eine nicht so gute Buchverfilmung, also kannst du beruhigt ins Kino gehen :D
AntwortenLöschenDu kannst übrigens wahnsinnig gut schreiben, dieser Text ist genial!
Danke! für beides ... vielleicht schau ich ihn mir an ...
Löschenund freut mich, dass dir mein Text gefällt, ich versuche wieder mal einen online zu stellen ...
Hey,
AntwortenLöschenBeim ersten Lesen habe ich mich in diese Geschichte verliebt, du weißt es. Das Gefühl, das du vermittelst, ist unglaublich schön, ruhig und doch aufregend. Es macht Gänsehaut. Ich würde gerne wissen, ob die beiden sich irgendwann wiedergesehen haben.
LG
Oh danke *-*
LöschenDie beiden haben sich nie wieder getroffen ... -.-
Solche Nächte und Erlebnisse machen das Leben wirklich lebenswert... Man sollte viel mehr aufschreiben ;-)
AntwortenLöschenJa ... oder wenigstens als Inspiration nutzen wie hier ... Nächstes Jahr wieder! ;)
Löschenoh wow!! wunderbar geschrieben, genau auf den punkt! ich liebe es einfach, wenn man auf festivals einfach mal 4 tage ohne sorgen, ohne gedanken an den alltag leben kann, das ist einfach das beste! und das frequency sowieso!
AntwortenLöschendein blog ist der wahnsinn, echt tolle bilder und texte, bin begeistert!!!
young blood